Interview mit Dr. Rüdiger Schweitzer, Facharzt für Allgemeinmedizin aus Adelsried. Kollege Schweitzer ist seit 2010 in einer hausärztlich ausgerichteten Gemeinschaftspraxis als Kassenarzt in Adelsried niedergelassen. Seit 2008 hat er die Zusatzbezeichnung Homöopathie sowie das Homöopathie-Diplom des DZVhÄ und leitet seit 2018 Intervisionsfortbildungen für KollegInnen im Bereich Homöopathie.

Wie passen konventionelle Medizin und Homöopathie zusammen?

Die moderne konventionelle Medizin und die Homöopathie sind zwei komplett verschiedene Medizinsysteme, das heißt aber nicht, dass sie nicht miteinander verknüpft werden könnten. Man muss bedenken: es sind neben der Ernährungssituation und dem allgemeinen Hygienebewusstsein die Ergebnisse der modernen Medizin, dass wir eine so hohe Lebenserwartung haben wie noch nie. Dass man mit chronischen Erkrankungen, an denen man noch vor 50 Jahren früh verstorben wäre, heute ein akzeptables Leben bis ins hohe Alter führen kann, ist sicher auch ein Erfolg unseres etablierten Medizinsystems.

Wo sehen Sie im Alltag Grenzen für die Homöopathie?

Grenzen sehe ich zunächst bei mir selbst und meinen Kollegen. Diese Grenzen sind abhängig vom homöopathischen Wissen, der Erfahrung und dem eigenen Können. Eine falsch gewählte Arznei wird dem Patienten nicht helfen. Eine weitere Grenze liegt in der Krankheit und ihrem Verlauf: wenn es zu Krisen kommt, die ich mit homöopathischen Arzneien nicht bewältigen kann, dann muss ich auf andere Methoden, meist die konventionelle Medizin zurückgreifen, um meinen Patientinnen und Patienten nicht zu schaden.

Und wo liegen Ihrer Erfahrung nach die Chancen der Homöopathie?

Prinzipiell bin ich eher experimentierfreudig und kann mir sehr viele Indikationsgebiete vorstellen, bei denen zunächst meist nach Leitlinien therapiert wird, Homöopathie aber ergänzend zum Einsatz kommt. Wenn es zum Beispiel gelingt, bei Patienten mit Asthma bronchiale oder einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung unter kombinierter Behandlung ein Nachlassen der Krankheitsaktivität zu erreichen und die konsequent eingesetzte Homöopathie es zulässt, dass ich die konventionelle Therapie deeskalieren kann, dann ist das für mich schon ein erfreulicher Erfolg.

Auch Akutsituationen schließen Homöopathie nicht aus: Wenn ich mit dem Sicherheitsnetz der Notfallmedizin Homöopathie anwende und der Therapieerfolg deutlich über einem erwartbaren Ergebnis liegt, dann ist das für mich eine Bestätigung der Wirksamkeit von Homöopathie.

Kann Homöopathie auch bei schweren und chronischen Krankheiten helfen?

Bei fixierten und langjährigen Krankheitszuständen, z.B. einem langjährig bestehenden Bluthochdruck oder einem Diabetes mit Folgeerkrankungen erwarte ich allenfalls palliative Verbesserungen. Das gilt auch bei Tumorerkrankungen mit erheblicher Tumormasse, da erwarte ich keine Wunderheilungen und bin froh, dass es im Bereich der Onkologie inzwischen sehr ausgefeilte Therapieoptionen gibt.

Von welchem ärztlichen Leitbild gehen Sie in Ihrer Praxis aus?

Ich überlege mir immer: wie erreiche ich es, dass ich meinen Patientinnen und Patienten am besten helfe und am wenigsten schade! Das ist für mich in der Allgemeinmedizin tägliche Praxis.

An erster Stelle steht immer die Erfahrung, was eine konventionelle Therapie mit all ihren Vor- und Nachteilen leisten kann. Basierend auf diesen Überlegungen kann eine alleinige konventionelle, eine ergänzende homöopathische oder eine alleinige homöopathische Therapie zusammen mit dem Patienten erarbeitet und eingeleitet werden. Die Homöopathie ist für mich ein weiteres Werkzeug in meinem allgemeinmedizinischen Werkzeugkasten. Sie ermöglicht mir, im Einzelfall zu wählen zwischen leitlinienorientierter Therapie oder individueller Behandlung, ich fühle mich frei zu entscheiden, wann synthetische Medikamente und wann Globuli, wann Impfungen, chirurgische Maßnahmen oder auch Methoden der psychosomatischen Grundversorgung die größten Erfolgsaussichten haben.

Können sie ein oder zwei Beispiele nennen, wo Sie Homöopathie als besonders wertvoll erlebt haben?

Da erinnere ich mich an Kinder mit Lungenentzündung, die nach der richtigen homöopathischen Arznei sehr viel schneller entfiebern und wieder gesund werden, als es die Eltern erwarten, weil sie den Vergleich haben zu ähnlichen Krankheitsepisoden, in denen nur konventionell mit Antibiotika behandelt wurde. Im Gedächtnis bleiben auch Jugendliche mit Pfeifferschem Drüsenfieber, bei denen unter der richtigen homöopathischen Arznei die Tonsillenbeläge in kürzester Zeit dahinschmelzen und sich die Krankheitsdauer deutlich verkürzt. Im Gedächtnis bleiben natürlich auch  die zahlreichen Influenza- und inzwischen auch COVID-19-Patienten, die zuhause weiter versorgt werden konnten und bei denen sich der Verlauf deutlich abmildern ließ. Und ich erinnere mich z.B. an eine geriatrische Patientin mit beginnender Demenz und aggressiven Zuständen, Schlafstörungen und Gedächtnisverlust, bei der sich unter Stramonium die Unruhezustände legten, der Schlaf besser wurde und sogar die Gedächtnisleistung wieder zunahm.

Wie unterscheiden Sie, ob eine Besserung auf einen Placebo-Effekt oder auf eine homöopathische Arzneiwirkung zurückzuführen ist?

Eine eindeutige Reaktion ist für mich, wenn es eine klassische Erstverschlimmerung mit einer deutlichen und lang anhaltenden Besserung gibt. Aufmerksame Behandler können das, was die alten Homöopathen wie Kent und Hering beobachtet haben, immer wieder beobachten.

Es stellen sich auch Verbesserungen des Krankheitszustands ein, die über dem erwartbaren Verlauf unter konventioneller Intervention liegen. Patientinnen und Patienten berichten auch von Reaktionen, mit denen sie überhaupt nicht gerechnet hätten. Sie verspüren Verbesserungen, die sie unter der bisherigen Therapie nicht kannten. Sie berichten im Sinne der Heringschen Regel vom Auftreten längst vergessener Symptome im Verlauf der Heilung.

Viele Patientinnen und Patienten reagieren in der allgemeinmedizinischen Beratung immer wieder positiv. Es regt sie an, über sich Gedanken zu machen, ihren Lebensstil zu ändern. Wenn aber das homöopathische Mittel richtig ist, passiert noch deutlich mehr.

Was sagen Sie KollegInnen, die der Homöopathie kritisch oder ablehnend gegenüber stehen?

Ich muss gestehen, dass ich noch nie ernsthaft mit homöopathiekritischen Kolleginnen und Kollegen in eine Diskussion gegangen bin. Mir fällt auf, dass diese für Argumente leider nicht erreichbar sind und sich immer der alten und unwahren Thesen bedienen. Thesen, die sich seit Hahnemann leider nie geändert haben.

Würden Sie StudentInnen und jüngeren KollegInnen dazu raten, sich mit Homöopathie zu beschäftigen und wenn ja: warum?

Ich fände es für jeden Studierenden der Medizin interessant, sich mit der Homöopathie zu beschäftigen, ohne zwingend homöopathische Ärztin oder Arzt zu werden. Es erweitert den Horizont, man könnte erkennen, dass nicht alles in einem lebenden System mit klassischer, mechanischer Physik und Chemie zu erklären ist. Die Studierenden würden erkennen, dass die Medizin nicht nur aus Zahlen, Tabellen und Statistiken besteht, sondern, dass Medizin keine Naturwissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft ist, die sich der Naturwissenschaften bedient.

Die Homöopathie wurde zwar in der Zeit der Aufklärung von Hahnemann beschrieben, kann aber bis heute Heilungserfolge aufweisen. Wer sich unvoreingenommen auf die Schriften von Hahnemann einlässt und sich in die Welt der Wissenschaft seiner Zeit versetzt, kann erkennen, dass Hahnemann ein scharfer Beobachter und Beschreiber von Phänomenen in der Medizin war und kein theoretisierender Philosoph, der nur in seiner eigenen Gedankenwelt lebte. Ein aufmerksamer Leser würde erkennen, dass Hahnemann beispielsweise vor Pasteur und Koch eine Ahnung davon hatte, dass es so etwas wie Mikroben gibt. Wäre die Homöopathie aufgrund alleiniger philosophischer und theoretischer Gedanken des ausgehenden achtzehnten bzw. beginnenden neunzehnten Jahrhunderts begründet worden, wäre sie schon längst wie viele andere Therapien der damaligen Zeit völlig in Vergessenheit geraten.

Herr Kollege Schweitzer, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und Ihre Zeit!

Das Interview führte Dr. Riker Ulf